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Publikation: Vortrag auf dem 11. Bad Nauheimer Symposium der Klinischen Hämstaseologie am 15.3.2003

Aus dem Venenzentrum Frankfurt am Main (Prof. Dr. Viola Hach-Wunderle)

Der Blutegel, unser schönstes und ältestes Haustier

Viola Hach-Wunderle


Die Blutentziehungen zu Heilzwecken haben in der Geschichte des Menschen und bei allen Völkern immer eine wichtige Rolle gespielt. Dazu gehörten der Aderlass, das Schröpfen und das Anlegen von Blutegeln. Diese Behandlungen werden in der Naturheilkunde heute wie vor 3000 Jahren durchgeführt. Das Enzym des Blutegels, Hirudin, ist gegenwärtig ein Brennpunkt der modernen Arzneimittelforschung.

Hirudo medicinalis im Wasser. Am Ufer eine Eiablage. Aus: Schmeil O, Leitfaden der Tierheilkunde für höhere Lehranstalten. Quelle und Meyer, Leipzig 1937

Hirudin steht auch heute wieder auf unserem wissenschaftlichen Programm. Wir werden lernen, dass es sich um ein Einketten-Polypeptid mit dem Molekulargewicht von 6950 handelt, dass der isoelektrische Punkt bei pH 4 liegt, dass Hirudin als Thrombin-Inaktivator wirkt, die Plazentarschranke überwindet und, und, und...

Alles sehr interessant, aber noch interessanter sind die Biologie und die Kulturgeschichte des Blutegels. In seinem Speichel produziert das Tier neben Hirudin noch eine ganze Reihe von anderen biochemischen Substanzen. Mit den beiden Saugnäpfen bewegt es sich außerhalb des Wassers fort. Der Mund hat 3 Kiefer, die mit je 80 Zähnchen besetzt sind. Der Blutegel braucht nur alle 2 Jahre eine Mahlzeit. Nun gut, aber wussten Sie auch, dass er eines der allerschönsten Tiere auf der Welt mit blauen, braunen und goldenen Farben ist? Und dass er so elegant schwimmt wie ein Delphin?

In der Heilkunst war der Hirudo medicinalis schon den Babyloniern bekannt. Auf einem Tontäfelchen mit Keilschrift ist von ihm die Rede. In unserem Kulturkreis geht seine therapeutische Anwendung wahrscheinlich auf Themison von Laodicea im 1. Jahrhundert v. Chr. zurück. Themison lebte in Rom und war dort als Arzt berühmt, wenn die Geschichte auch heute nicht gerade günstig über ihn urteilt. Themison galt als ein begabter Schüler des Asclepiades, aber er reduzierte die Lehre seines großen Meisters auf ein Minimaß. Er teilte die Krankheiten einfach in den Status strictus (das waren die akuten) und in den Status laxus (die chronischen) ein. Und im Status strictus mussten erschlaffende Mittel zur Anwendung kommen, so auch der Blutegel.

Seitdem ist der Blutegel aus der Heilkunde nicht mehr wegzudenken. Seine Verwendung hängt eng mit der Säftelehre in der Antike zusammen. Aus den philosophischen Theorien des Empedocles und des Aristoteles entwickelte die Heilkunde ihre berühmte Humoralpathologie, die sich bis in unsere Zeit hinein gehalten hat. Die falsche Mischung der Körpersäfte wurde durch den Blutentzug eingeleitet, also durch den Aderlaß, das Schröpfen und eben durch unseren Blutegel.

Naturphilosophische Lehren der Antike

In allen Lehrbüchern der Alten Medizin wurde über den Blutegel geschrieben. Es ist schön zu lesen, wie liebevoll ihn Stephanus Blancardus 1688 abhandelt. Am Ende des Hauptes haben sie ein Löchelgen, aus welchem drey Stachelgen herfür kucken...Und haben goldene Striche am Bauche.. Sie werden an alle Oerter des Leibes gesetzet. Aus dem letzten Satz klingt dann aber doch die Mentalität des Chirurgen im Mittelalters heraus: Man schneidet mit einer Scheer den Hintertheil ab.

Titelblatt. Stephanus Blancardus. Newe Kunst-Kammer der Chirurgie oder Heilkunst. Grentz, Hannover und Hildesheim 1688

Die Thrombose wurde erst am Anfang des 19. Jahrhunderts als Krankheit bekannt. Der berühmte Londoner Frauenarzt und Geburtshelfer David D. Davis (1777 – 1841) hat 1822 bei vier Sektionen den Zusammenhang zwischen der Phlegmasia alba und einer violenten Entzündung der Beckenvenen nachgewiesen. Er gab auch die ersten therapeutischen Empfehlungen. Natürlich stand der Blutentzug an der ersten Stelle.

The speedy resolution of the inflamation in the iliac veins, is to be secured in almost every case by early and local treatment. The blood to be abstracted should, accordingly, be taken from the immediate neighbourhood of the part primarily affected. From the excessive tendernes of the parts concerned, leeches are the only operators to be depended upon in these cases. Of these a dozen should be forthwith applied to the groin, to the affected iliac region, and to the inferior and superior part of the thigh. If this be done before any obvious accumulation of blood in the limb shall have taken place, it will generally put down the threatened mischief at once.

Saugende Blutegel. Aus: Bottenberg H. Die Blutegelbehandlung. Hippokrates, Stuttgart Leipzig 1935

Es ist auch interessant, was Davis über das Ansetzen von Blutegeln hinaus empfahl. In der Leiste und in der Umgebung sollten blasenziehendes Pflaster verabfolgt werden. Während der Schwellung und der Überwärmung der Gliedmaße wurden Kälteanwendungen appliziert, dann verdunstende Verbände und die freie Exposition der Extremität in der Umgebungstemperatur.

Andere Ärzte in dieser Zeit empfahlen bei der Phlegmasia dolens heiße Umschläge, was Davis in milder Form auch für richtig hielt, um den freien Abfluss des Blutes aus dieser Region anzuregen. Das durfte aber immer erst nach der Behandlung mit den Blutegel stattfinden, sonst mußte mit einer Verschlimmerung gerechnet werden.

Ein geschätzter Freund hatte Davis davon überzeugt, dass die eigentümliche Schwellung bei der Thrombose vielleicht durch eine leichte Bandagierung gelindert würde. Jedenfalls sei dieser Hinweis der Überlegung wert gewesen.

Davis hat auch Digitalis in hohen und häufigen Dosen angewendet, und zwar 2 g von Battleys Pulver alle 2 oder höchsten 3 Stunden. Sobald der Patient insgesamt 25 bis 30g genommen hat, wurde die Dosis je nach Umständen reduziert. Digitalis sollte auch den Übergang der Krankheit auf die andere Extremität verhindern.

Schlusswort
Das Ansetzen von Blutegeln war bis zur Einführung der Antikoagulantien vor 50 Jahren überall in Europa üblich. Die Tiere wurden früher hauptsächlich in Griechenland gefangen. Heute erfolgt der Import aus der Türkei. Aber auch in Deutschland werden Blutegel gezüchtet. Nach Angaben der Firma Zaug in Biebertal bei Giessen liegt der jährliche Verkauf bei 200 000 Tieren (Zitat Focus 24/2002). Aus dem Internet habe ich in der letzten Woche die aktuellen Indikationen für die Verwendung von Blutegeln herausgeschrieben. Darunter befinden sich alle möglichen entzündlichen und degenerativen Krankheiten wie vor 200 Jahren, auch Thrombosen, Phlebitis und Thrombophlebitis.

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