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17. Internationaler Workshop für Phlebologie
21.-22.03.2003 in Frankfurt am Main


Aus dem Venenzentrum Frankfurt
(Prof. Hach-Wunderle, Prof. Hach)


Festvortrag

Wege ohne Ausweg

Ãœber die chirurgische Therapie
des Ulcus cruris venosum vor unserer Zeit

Von Wolfgang Hach


Heute können wir uns keine Vorstellung darüber machen, welche Bedeutung die schwere Krampfaderkrankheit mit den unheilbaren Beingeschwüren vor unserer Zeit gehabt hat. Sicherlich, die Menschen sind nicht daran gestorben, es war ja nicht die Pest oder die Pocken. Meiner Meinung nach gehörte das chronische Ulcus cruris venosum eher mit dem Hunger und dem sozialen Elend der Menschen in eine Kategorie zusammen.

Heinrich Zille (1858-1929; Berliner Zeichner). Abgehärmte Mutter von drei Kindern mit einem Beingeschwür. Zeichnung mit der Unterschrift „Hunger“
Sehr geehrte Damen und Herren!
Ich habe noch Eindrücke der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg auf unserer chirurgischen Abteilung im Krankenhaus Berlin-Weißensee kennengelernt. Viele Berliner waren ausgebomt. Sie lebten in den Laubenkolonien am Rande der Stadt. Wenn sie die Eierkohlen und das Eingemachte nach Weihnachten aufgebraucht hatten, dann gingen diese verarmten, ausgefrorenen und hungrigen Menschen in ihr Krankenhaus. Und die Krankheit Jahr für Jahr? Das Ulcus cruris. Manche wurden operiert, andere konservativ behandelt. Mein Chef, Dr. Rudolf Schäfer, war ein überaus sozial eingestellter Arzt. Alle Patienten mussten irgendwie aufgenommen und keiner durfte gegen seinen Willen entlassen werden. Wir jungen Ärzte lernten alles, was es an Therapien des Ulcus cruris gab.

Hören wir uns den Bericht eines der berühmtesten Chirurgen im 19. Jahrhundert, von Adolf Bardeleben (1819-1895) zu dieser sozialen Situation an. Prof. Bardeleben war zunächst Direktor der chirurgischen Klinik an der Universität zu Greifswald. Im Jahre 1868 wurde er an die Berliner Charité berufen. Auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie 1891 in Berlin sagte er: „Auf der Abtheilung, welcher ich vorzustehen die Ehre habe, befinden sich oft 80-100 Patienten mit Unterschenkelgeschwüren und varicösen Venen, bekanntlich eine wahre Plage für eine chirurgische Abtheilung. Ich habe aber auch in Greifswald schon unter dem Andrang von Bummlern mit varicösen Geschwüren zu leiden gehabt, die, seit das neue Krankenhaus in Greifswald eröffnet war, mit Vorliebe sich daselbst sesshaft machten. Es wurde da für sie sogar eine besondere Abtheilung errichtet, oben auf dem Boden, sogar zeitweise, wenn ihrer zu viele waren, eine Streu gemacht, um sie unterzubringen“.

Krampfadern wurden damals nur operiert, wenn sie als Ursache eines Geschwürs in Betracht kamen, und die Wirksamkeit einer Operationsmethode wurde daran gemessen, inwieweit sie den Patienten von seinem Ulkusleiden befreien konnte. Das Ulkus stand immer im Mittelpunkt. Solche Krankheitsfälle bekommen wir heute nicht mehr zu Gesicht. Das sollten Sie bei der kleinen Auswahl an Operationsmethoden, die ich Ihnen vorstelle, vor Augen haben.

Die Circumcision nach von Nussbaum 1873
Im Jahre 1873 veröffentlichte der Münchener Generalstabsarzt von Nussbaum seine Circumcision. Der zirkuläre Einschnitt erfolgte einen Querfinger vom Ulkusrand entfernt bis auf die Faszie. Schon am folgenden Tage hatten sich das Geschwür verkleinert und die Operationswunde verbreitert. Von 1857 bis zur Veröffentlichung hatte von Nussbaum bereits 60 Patienten mit gutem Erfolg operiert. Wir haben den kleinen Eingriff bei kallösen Ulcera früher des öfteren durchgeführt.

Totale Exhairese nach Madelung 1884
Die Entfernung der ganzen V. saphena magna war das erste radikale Behandlungskonzept der schweren Stammvarikose, das zu reproduzierbar guten Ergebnissen geführt hat. Otto Wilhelm Madelung (1846-1926) war Professor für Chirurgie in Rostock. Wir kennen ihn von dem Madelung´schen Fetthals, der Madelung´schen Deformität und dem Madelung´schen Zeichen bei der Appendizitis her. Er entfernte die ganze V. saphena magna einschließlich aller Seitenäste von langen Hautschnitten aus und nahm ausgedehnte subfasziale Perforansdissektionen vor. Bis zur Veröffentlichung 1884 berichtete er über 11 Operationen.
Schnittführung bei Madelungs Operation: „Ich habe mit dieser so leicht auszuführenden Operation mehr Dank geerntet, als mit vielen schwierigen operativen Eingriffen“.
.„Ich habe die radicale Ausschälung des durch cirsoide Varicenbildung degenerierten Venenplexus vorgenommen. So versteht es sich, dass meist über mehr als Fusslänge und mehr als Handbreite Strecken der Unterschenkelhaut abpräpariert werden müssen. Ein um den Oberschenkel locker umgelegter Schlauch füllt die peripher liegenden Venen strotzend. Zahlreichste Unterbindungen sind besonders zum Schluss der kleinen, die Faszie der Unterschenkelmusculatur durchdringenden Gefässe nöthig“.

Ligatur der Stammvene nach Trendelenburg 1891
Zu den ersten Veröffentlichungen im Weltschrifttum, die auf die pathophysiologischen Grundlagen der Varikose eingingen, gehört die berühmte Arbeit von Trendelenburg im Jahre 1891: Ueber die Unterbindung der Vena saphena magna bei Unterschenkelvaricen. Friedrich Trendelenburg (1844-1924) war Ordinarius für Chirurgie an den Lehrkanzeln in Rostock, Bonn und Leipzig.
Privatkreislauf nach Trendelenburg 1891. „Das Blut wird in den tiefen Venen des Beines in die Höhe gepumpt und fällt zum Teil wieder in der Saphena zurück“
In Trendelenburgs Arbeit sind die entscheidenden Erkenntnisse der Pathophysiologie bis in unsere Zeit hinein vorweggenommen. Dazu gehörte die Theorie des Privatkreislaufs. Als therapeutische Konsequenz ergab sich daraus die doppelte Unterbindung und Durchschneidung der Vene in der Mitte des Oberschenkels, die in den Jahren 1880 bis 1889 in 9 Fällen mit gutem Erfolg durchgeführt worden war. Jedoch gab es schon bald schwere Rezidive. Sein Oberarzt Georg Clemens Perthes (1869-1927), später Ordinarius in Leipzig und Tübingen, forderte deshalb, die Unterbindung so hoch wie möglich vorzunehmen.

Zirkuläre Umschneidungen am Bein
Man wußte also um die Bedeutung einer Ausschaltung der Stammvenen, undtrotzdem kam es zu schweren Rezidiven der Ulzera. Deshalb wurde eine Unterbrechung aller subkutanen Krampfadern durch zirkuläre und später durch spiralige Umschneidungen vorgenommen. Heute mögen diese ausgedehnten Eingriffe eine Verwunderung hervorrufen, zu ihrer Zeit waren sie aber in allen Operationssälen der Welt bekannt.

Moreschi (1893) führte den zirkulären Schnitt jeweils oberhalb und unterhalb des Ulcus cruris durch. Mariani (1903) nahm den Schnitt nur oberhalb des Geschwürs vor. Von Petersen (1896) stammt die Empfehlung der Zirkumzision unterhalb vom Knie und von Wenzel (1902) an der unteren Drittelgrenze des Oberschenkels ( Laqua 1930).

Aus Buenos Aires berichtete Wenzel über 26 Operationen. Die Patienten lagen nach dem Eingriff 12 Tage in der Tredelenburg´schen Position fest im Bett. Er teilte die folgende Kasuistik mit „47-jährige Wäscherin, Mutter von 6 Kindern, mager, verhärmt, Bronchiektasen. Handtellergroßes, schmieriges, äusserst schmerzhaftes Geschwür seit 5 Jahren. Geht es (ihr) nun sehr schlecht, frisst das Geschwür um sich und raubt der Trägerin den Schlaf. Dann entschließt sie sich verzweifelnd zur Bettruhe. Aber das dauert nicht lange, denn der Vater ist halbblöder Quartalssäufer und wenn die Mutter nicht arbeitet, haben die Kinder nichts zu essen“. Nach der Operation war das Ulkus seit 2½ Jahren abgeheilt. Die Narbe erschien rinnenartig eingesunken: „Ja, wissen Sie, Herr Doctor, da binde ich mir immer mein Strumpfband, das hält so schön“. Später wurde die Methode deshalb auch Strumpfbandoperation genannt.

Spiralschnitt von Rindfleisch und Friedel 1908
Prinzipiell strebten Rindfleisch und Friedel die komplette Entfernung jeder Krampfader an. Im narbig-ulzerösen oder ödematösen Gewebe war das aber nicht möglich. So gelangten sie über die hufeisenförmige Zirkumzision des Ulcus cruris und kleine zirkuläre Einschnitte zu ihrer ungewöhnlichen Methode. Die Operation bestand aus einem langen Schnitt in 5 bis 6 spiraligen Touren vom Unterschenkel bis zum Oberschenkel und bis auf die Faszie hinunter. Die Wunden blieben offen. Während der postoperativen Behandlung wurden die frischen Granulationen immer wieder mit Höllenstein weggeätzt, sodaß die Wundränder möglichst auseinanderwichen. Nach 14 Tagen verließen die Patienten das Bett. Die Operation hat W. Rindfleisch, Chefarzt am Johanniter-Krankenhaus in Stendal, vorgenommen. Die Veröffentlichung der Methode erfolgte durch seinen Assistenten G. Friedel.

In der Arbeit steht folgende Kasuistik zu lesen: „O.H., Knecht, 56 Jahre alt, liegt seit ca. 4 Monaten wegen eines Krampfaderleidens am linken Bein auf der hiesigen chirurgischen Abtheilung. Die Vena saphena magna kommt vom Oberschenkel als ein 2 fingerdicker Strang herab und verliert sich in dem ödematösen Gewebe des Unterschenkels. Da sich die Fisteln nicht schließen wollen, wird am 5.4.07 zunächst am Oberschenkel die V. saph. 10 cm weit exstirpirt. Handbreit unterm Knie wird dann, von der medialen Seite beginnend, eine den Unterschenkel fünfmal umkreisende Spirale gezogen, die vorm äußeren Knöchel endet. Dabei werden auch noch unter der Muskelfaszie liegende Varicen durchtrennt. Die Spirale heilt in ca. 8 Wochen, Abscesse und Fisteln sind verschwunden; das Ödem ist wesentlich zurückgegangen.
Operation nach Rindfleisch und Friedel. „Bei der ausgiebigen Eröffnung der Lymph- und Gewebsspalten tritt eine ganz enorme Entsaftung des Operationsgebietes ein“.
Heute mag die Rindfleisch-Friedel`sche Operation als ein Extrem der Venenchirurgie erscheinen. Seinerzeit hatte sich die Methode aber an allen größeren Kliniken in Deutschland und Österreich eingebürgert. Sie kam später wegen des hohen Blutverlusts, der postoperativen Sensibilitätsstörungen, schwerer Stauungen mit eingeschränkter Gebrauchsfähigkeit der Extremität sowie der langen stationären Behandlungsdauer bis zu 20 Wochen in Mißkredit. Immerhin maß die Länge der Operationswunde bis zu 156 cm. In der Literatur wurde nur ein Todesfall verzeichnet, obgleich das Krankengut aus älteren, oftmals weit über 70-jährigen Patienten bestand.

Vielleicht hat Bode, Chefarzt der chirurgischen Klinik in Bad Homburg, die Situation um die Rindfleisch-Friedel´sche Operation im Jahre 1919 am treffendsten geschildert. "Enttäuscht und mißmutig haben Kranke ungeheilt die Anstalt verlassen, und auch der Arzt verlor bald begreiflicherweise bei diesen Erfahrungen den Mut und die Lust zu einer weiteren Betätigung dieser Art". Zufällig kam einer der unzufriedensten Patienten später wegen einer anderen Krankheit in das Bad Homburger Krankenhaus zur Aufnahme. Bode war über das gute Spätergebnis überrascht. Er bestellte daraufhin alle 18 Patienten, bei denen er die Operation durchgeführt hatte, zur Nachuntersuchung ein und fand, abgesehen von Sensibilitätsstörungen, hervorragende Spätergebnisse.

Nervendehnungs-Operation nach Bardescu 1899
Die operative Strategie beruht auf der Theorie, dass bei den chronischen varikösen Unterschenkelgeschwüren neben der Beeinträchtigung des Blutrückflusses auch Störungen der trophischen Innervation vorliegen. Die erste Veröffentlichung erfolgte von Bardescu 1997 in einer Bukarester Zeitschrift.

Der Eingriff erfolgte an einem 45-jährigen Bauern mit einem chronischen Ulcus cruris seit 8 Jahren. Bardescu beschrieb die folgende Kasuistik: „Am 28. September wird unter Lokalanästhesie mit Cocain die Resektion der V. saphena magna im mittleren Drittel des Unterschenkels vorgenommen. Am 8. Oktober wird in Chloroformnarkose die Fingerdehnung des N. peroneus communis hinter dem Fibularkopf gleich oberhalb seiner Endäste ausgeführt. Nach der Dehnung wurde der Nerv zerfasert und die Fascikel desselben mit der Spitze des Bistouri getrennt, damit die varikösen Gefäße des Nerven so viel wie möglich zerstört würden. Der Nerv ist dann an seine frühere Stelle gebracht worden. Nach der Operation bemerkten wir eine vorübergehende Anästhesie des N. peroneus superficialis. Pat. wird am 27. November geheilt entlassen“. Die Nervendehnung wurde an dem oder den zum Ulkus führenden Nerven vorgenommen, also dem N. saphenus bei innenseitigen und dem N. peroneus superficialis bei außenseitigen Geschwüren. Die Methode fand in verschiedenen Kliniken ihre Anerkennung.

Verlagerung der V. saphena magna nach Cecca 1908 sowie Katzenstein 1911
Der italienische Chirurg Cecca verlagerte die V. saphena magna in ihrem gesamten Verlauf unter die Faszie, um sie gegen die variköse Dilatation zu schützen. Das aufwendige Verfahren konnte sich nicht halten. In ähnlicher Weise fügte Katzenstein, Assistent am Jüdischen Krankenhaus in Berlin, das Gefäß in die Sartoriusloge ein, um durch die Muskelkontraktion gleichzeitig eine bessere Hämodynamik zu erreichen.

Katzenstein beschrieb die Operation folgendermaßen: „Die Vena saphena magna wird am Oberschenkel in möglichst weiter Ausdehnung freipräpariert, der daneben gelegene M. sartorius isoliert. Durch Zusammennähen der Sartoriusränder wird ein Muskelcanal gebildet, in den die Vena saphena magna hineingelegt wird. Die Unterschenkelmuskulatur eignet sich nicht so gut für diese Operation“.

Sapheno-femorale Anastomose nach Delbet 1906
Der französische Chirurg Delbet versuchte, durch die Anastomosierung der V. saphena magna mit der V. femoralis superficialis funktionstüchtige Venenklappen in den Privatkreislauf einzuschalten und damit den retrograden Blutstrom zu unterbrechen. Er selbst nahm den Eingriff an 25 Patienten vor und erzielte gute Resultate.

Hesse und Schaack (1911) haben die Operation am Obuchow-Krankenhaus für Männer in St. Petersburg bei 23 Kranken angewendet. Dann wurde die Methode allgemein wegen der schwierigen technischen Voraussetzungen aufgegeben. „Zur Naht verwandten wir dünne Gefäßseide, welche durch 10 Minuten langes Kochen in Paraffinum liquidum bei 110° keimfrei gemacht worden war. Die zierlichen Nadeln müssen vorher eingefädelt sein, da ein Einfädeln während der Operation schwierig ist“.
Schematische Darstellung der Delbet´schen Operation. Die variköse Stammvene wird abgetrennt und mit der V. femoralis superficialis anastomosiert.
Meine Damen und Herren!
Ich konnte Ihnen nur einen kleinen Einblick in die großartige, aber doch sehr traurige Geschichte der Venenchirurgie vermitteln. Mit einem Wort des großen Berliner Arztes Rudolf Virchow habe ich begonnen, und mit einem Bild von ihm möchte ich meinen Vortrag beschließen. Virchow hat sich nie mit dem Ulcus cruris beschäftigt, aber er war ein mutiger Kämpfer für die Sozialreformen im Alten Berlin, um die Menschen aus dem Hunger und aus der Verelendung zu führen.
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