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Publikation: Hach W (2002) Die Geschichte der venösen Thrombose. Phlebologie 31:45-8

Aus dem Venenzentrum Frankfurt am Main
(Prof. Dr. W. Hach)

Die Geschichte der venösen Thrombose

von Wolfgang Hach


Im Altertum und im Mittelalter hat die Thrombose wohl zu den Ödemata gehört und paßte gut in die Säftelehre hinein. Ihre systematische Erforschung ging in der Mitte des 19. Jahrhunderts von der pathologischen Anatomie aus. In der Klinik wurde die Diagnose zunächst selten gestellt. Eine infektiöse Ursache stand bis weit in das vergangene Jahrhundert hinein im Vordergrund.


Die konservative Behandlung beschränkte sich anfangs auf lokale Anwendungen wie Blutegel und kalte Auflagen. Gelegentlich wurden auch Bandagierungen vorgenommen. Erst 1910 kam eine systematische Kompressionstherapie auf. Die Antikoagulation gehört schon ganz in unsere Zeit.

Die operative Therapie der Thrombose setzte 1938 ein und wurde nach dem 2. Weltkrieg vervollkommnet. Dagegen ist die Thrombose-Prophylaxe in der Chirurgie seit über 100 Jahren bekannt, und die moderne Medizin hatte hier nur noch die niedermolekularen Heparine hinzuzufügen.


John Hunter (1728-1793). Sehr bedeutender englischer Chirurg und Anatom. Wurde von seinem älteren Bruder William aus Schottland nach London geholt und gelangte hier zu großem Ansehen. Gründete das berühmte Museum für vergleichende Anatomie und Zootomie in London und bereicherte die Medizin um zahlreiche Entdeckungen.

Die Krankheiten der peripheren Venen begleiten den Menschen von seiner Evolution bis in die heutige Zeit. Alles begann vor Jahrmillionen mit der Aufrichtung des Gangs und mit dem Problem, den Blutkreislauf entgegen der Erdschwerkraft zu bewältigen. Dann waren die Menschen über Jahrtausende hinweg zur Erhaltung ihres Lebens auf schwerste körperliche Arbeiten angewiesen, und das wirkte zumindest der Thromboembolie entgegen. Heute haben wir es in den Industrieländern der westlichen Prägung mit einer intellektuellen Gesellschaft zu tun, die den Tag im Büro vor dem Computer sitzt und damit das Risiko aller Krankheiten der Bein- und Beckenvenen drastisch erhöht. Nur der Mensch leidet an Krampfadern und Thrombosen. Bei Tieren sind vergleichbare Krankheiten nicht bekannt.

Die Geschichte der Krankheit
In der medizinischen Literatur des Altertums verbirgt sich das Krankheitsbild der tiefen Bein- und Beckenvenen-Thrombose hinter dem Begriff der Oedemata (33). Die intravasale Blutgerinnung konnte nicht bekannt gewesen sein. Eine mit wassersüchtigen Schwellungen einhergehende Krankheit paßte jedoch als Kalter Schleim gut in die philosophische Säftelehre des Aristoteles und Hippokrates hinein (Tab.1).

Während des ganzen Mittelalters setzte sich die scholastische Lehre der Medizin fort, bis der englische Philosoph Francis Bacon von Verulam (1561-1626) die Aufteilung der Wissenschaften in die Theologie und die Naturphilosophie vornahm (Tab. 2).

Im 16. Jahrhundert wurden autoptische Untersuchungen an Verbrechern erlaubt, und es konnte eine systematische Erforschung der Anatomie und Physiologie des Menschen beginnen (13). Sicherlich wurden bei den Sektionen auch pathologische Befunde erhoben, sie fanden in den Lehrbüchern der Anatomie aber keinen Niederschlag.

Zu Beginn des 18. Jahrhunderts war die Beziehung der „Ödemkrankheit“ zum Venensystem zwar bekannt, man wußte aber nicht viel damit anzufangen. Matthäus Gothofried Purmann (1648-1727) wandte sich 1716 in seiner Chirurgia curiosa dem Thema zu.

Mattheus Gothofridus Purmannus (1716) Chirurgia curiosa. Rohrlachs seel Wittib und Erben. Frankfurt Leipzig. Tabula 13.


Die materia peccans (peccare = sündigen, freveln) ist nur ein zäher Schleim und gelinde Gelatin, die in den Gefässen eingeschlossen (ist) und dardurch dieselben nach und nach so ausgedehnet, daß sie zerreissen möchten (29).

 

 

Purmann lebte noch ganz in der antiken Lehre von den Körpersäften des Claudius Galenus (131-201 n.Chr.) und ordnete die „Ödemkrankheit“ dem Phlegmatischen Temperament zu (12).

Die erste ausführliche Beschreibung der Thrombose und der Lungenembolie hat John Hunter (1728-1793) in einem Vortrag am 6. Februar 1784 vor der Londoner Society for the Improvement of Medical and Chirurgical Knowledge vorgenommen. Er schrieb von einer Entzündung, die sich bei der Sektion teilweise als wand-adhärentes Gerinnsel und teilweise als koagulierte Lymphe darstellt. Bald geht der Prozeß in eine Erweichung, in die suppuration über. Hunter kannte auch die Lungenembolie als Todesursache bei der Thrombose. Zur Behandlung erfand er einen Kompressionsverband aus Leinen (15).

Der große Weitblick von John Hunter im Jahre 1793 kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Seinerzeit wurde die Phlegmasia alba im Wochenbett von Mauriceau 1688 und von Mesnard 1743 als ein Reflux der Lochien in das betroffene Bein angesehen (24, 26). Im Jahre 1759 beschrieb Puzos die Phlegmasia alba des Puerperiums als depots de lait (30). Eine dritte Theorie wurde von Wight 1784 in Manchester (38) und von Trye 1792 in Gloucester (35) als Obstruktion der Lymphbahnen aufgestellt.

Um die Wende zum 19. Jahrhundert herrschten über die Natur der Thrombose weiterhin recht unklare Vorstellungen, wie 1818 in Puchelt’s Monographie über Das Venensystem in seinen krankhaften Verhältnissen nachzulesen ist. Puchelt war Professor der Medizin an der Universität Leipzig. Er bezeichnete sich als Armenarzt und Custos des Gelerschen Theils der Universitätsbibliothek. Sein Begriff der Venosität war noch eng mit der alten Säftelehre verbunden und entsprach dem Phlegmatischen Temperament. Er verstand darunter venöse Entzündungen in allen Organen, besonders aber in den großen Venen und im rechten Herzen. Zum Venismus gehörten auch Krankheiten wie Gicht, Croup oder das Puerperalfieber. In mehreren Kasuistiken wurde der frequente Puls als dominierendes klinisches Symptom hervorgehoben. Das große Verdienst von Puchelt ist, die klinische Symptomatik anhand von Kasuistiken mit den pathologisch-anatomischen Befunden koordiniert zu haben (28).
Endokarditis und Arteritis. In: Gluge, G (1843-1850). Atlas der Pathologischen Anatomie. Mauke, Jena. 14. Lieferung, Tafel 1. Puchelt rechnete die schon 1761 von Morgagni beschriebenen „Polypen“ an den Herzklappen zum Venismus.

Es dauerte noch in das 19. Jahrhundert hinein, bis sich die pathologische Anatomie als eigenes medizinisches Fach zu entwickeln begann (13, 33): Die intravasale Blutgerinnung ließ sich als Krankheitsentität erkennen. Die Höhepunkte dieser Forschungen wurden durch Jean Cruveilhier (1791-1874) in Paris, durch Freiherr Carl von Rokitansky (1804-1878) in Wien und durch Rudolf Virchow (1821-1902) in Berlin erarbeitet.

Cruveilhier führte die Bezeichnung Phlebitis ein und wollte damit auf die entzündliche Ursache der Krankheit hinweisen. Er hat die zentrale Erweichung des Thrombus - wie schon Hunter 1793 - fälschlicherweise für Eiter gehalten, konnte aber bereits feststellen, dass eine primär eitrige Venenentzündung nicht vorkomme, sondern dass im Anfang immer ein Blutgerinnsel vorhanden sei (4).

Virchow hat die morphologischen Verhältnisse am Mikroskop aufgeklärt und seine Forschungsergebnisse in der Zehnten Vorlesung am 17. März 1858 unter dem Titel Metastasirende Dyscrasie veröffentlicht (36).

Virchow unterschied sieben Formen der Thrombose. Die marantische Thrombose ist diejenige Form, welche nicht bloss wegen ihrer Häufigkeit, sondern auch wegen ihrer Folgezustände, namentlich wegen der partiellen, schmerzhaften Oedeme (Phlegmasia alba dolens) von großer praktischer Wichtigkeit ist. Diese Form findet sich im Gefolge der mannichfaltigsten Krankheiten, welche mit Siechthum (Marasmus) verbunden sind. Sie ist insbesondere sehr gewöhnlich im Laufe der chronischen Kachexien, der Phthisen, der Krebse, bei Leuten mit langem Krankenlager, daher namentlich bei chirurgischen Fällen und bei Lähmungen, aber ebenso in der Reconvalescenz der schweren fieberhaften Krankheiten, insbesondere der Typhen, der protrahirten Puerperalerkrankungen (37).
 

Tabelle 3. Formen der Thrombose nach R. Virchow 1856 (37)  
1. marantiche Thrombose  
2. Kompressionsthrombose  
3. Dilatationsthrombose  
4. traumatische Thrombose  
a) Aderlassthrombose  
b) Amputationsthrombose  
5. Thrombosen der Neugeborenen  
6. puerperale Thrombosen  
7. sekundäre Thrombose nach Entzündung der Gefäßwand 

 

Virchow äußerte sich auch zur Lokalisation und zur Ursache der Thrombose. In den Muskelästen beginnen die Thrombuskerne sehr gewöhnlich hinter Klappen. Andere Male freilich wird die eigentliche Phlebitis die Bedingung für Thrombose, indem sich auf der inneren Wand Unebenheiten, Höcker, Vertiefungen und selbst Ulcerationen bilden, welche für die Entstehung des Thrombus Anhaltspunkte bieten (9).

Schon wenige Jahre später, 1865, beschrieb der französische Internist Armand T. Trousseau das klinische Bild der Phlegmasia alba dolens und der Lungenembolie ausführlich in seinem Standardwerk Clinique médical de l`Hotel Dieu de Paris (34). Er hat präzise darauf hingewiesen, daß Veränderungen in der Zusammensetzung des Blutes by allen Cachexieen, namentlich bei der tuberkulösen und krebsigen, eine entscheidende Rolle spielen. Trousseau war es, der die pathologische Zusammensetzung des Blutes als Ursache der Phlegmasia alba erkannte, so daß eine „Virchow’sche Trias“ dem Inhalt nach hier erstmalig genannt wird. Ein großes Verdienst von Trousseau besteht darin, daß er durch vergleichende pathologisch-anatomische Untersuchungen die hohe Koinzidenz der Phlegmasie mit der Krebskrankheit festgestellt hat, was heute als Trousseau-Syndrom in die Literatur eingegangen ist (11).

Am häufigsten sah Trousseau die Phlegmasia alba dolens beim Magenkarzinom. Die Tragik seiner eigenen Krankheit und sein Tod waren damit verknüpft. Am Neujahrstage 1867 teilte Trousseau seinem Freund und Kollegen Dr. Peter mit, daß er bald sterben würde. In der Nacht sei eine Phlebitis am linken Arm aufgetreten, und die lasse ihm keinen Zweifel an der Natur seiner Krankheit, einem Magenkarzinom. Trousseau starb am 27. Juni 1867. Er hatte den Krebs bei sich selbst an der Thrombose erkannt und nur 6 Monate überlebt (32).
Das Colloid (Cancer aréolaire).In: Gluge, G (1843-1850). Atlas der Pathologischen Anatomie. Mauke, Jena. 10. Lieferung, Tafel 3. Magenkarzinom in einer Darstellung etwa zur Zeit von Trousseau.

Auch im deutschen Sprachraum wurden bald Kapitel über die Thrombose und die Embolie in die großen Lehrbücher aufgenommen. Den Begriff Phlebothrombose wandte erstmals der Chirurg Heinrich Adolf von Bardeleben (1819-1895) in seinem Lehrbuch der Chirurgie und Operationslehre 1859 an. Er hat dabei aber nicht zwischen den Krankheiten der oberflächlichen und der tiefen Venen im Sinne der heute gültigen Lehre von Ochsner und DeBakey unterschieden (27).
 

Von Bardeleben war Ordinarius für Chirurgie in Greifswald und an der Berliner Charité. Er kannte bereits die Vorgänge der Progredienz und der Rekanalisation eines Thrombus recht genau: Obturirende Gerinnsel werden zuweilen in der Art resorbirt, dass sie in der Mitte durchgängig werden und somit einen Canal darstellen, der das obere Stück des Venenrohrs wieder mit dem unteren in Verbindung setzt (1).

Aus gerinnungsphysiologischer Sicht wurde die Pathogenese der Thrombose durch die Entdeckung von Fibrin 1862 durch Alexander Schmidt (31) und die definitive Beschreibung der Blutplättchen 1882 durch Giulio Bizzozero (2) aufgeklärt. Die mikrozirkulatorischen Untersuchungen von Carl J. Eberth, Professor in Halle, und seines Assistenten Schimmelbusch 1885 vermitteln eine Vorstellung von der Thrombogenese in einer heute noch überzeugenden Weise. Die Verlangsamung der Blutströmung im Gefäß spielt eine wichtige Rolle, damit sich der wandständige Blutplättchenthrombus ausbilden kann (6).

Mendel im Krankenhaus Essen an der Ruhr führte 1909 den Begriff der Thrombophilie ein und meinte damit eine Disposition zur Thrombenbildung – ob erworben oder angeboren. Aufgrund der Beobachtung an Patienten mit rezidivierenden Thrombosen nahm Mendel entweder einen Mangel an Antithrombinen oder einen Überschuß an Thrombokinasen oder beides gleichzeitig an. Allerdings konnte er sich aus der gültigen Infektionstherapie nicht lösen, denn in den weit überwiegenden Fällen von Thrombose wird irgendeine vorausgegangene Infektion als die eigentliche Ursache der Gerinnung festzustellen sein, die zu einer Endothelschädigung geführt hat. Eine erbliche Disposition wurde von Mendel abgelehnt (25).

Viola Hach-Wunderle hat in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts die erste große Sammelstatistik über die relative Häufigkeit der kongenitalen Formen einer Thrombophilie erstellt und im Rahmen ihrer Habilitationsarbeit veröffentlicht (10). Seitdem wurden auf der ganzen Welt unzählige Daten über die Pathophysiologie der Thrombose bis hin zur Molekularbiologie zusammengetragen.

Die Geschichte der konservativen Thrombose-Therapie
Bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts wurde die tiefe Bein- und Beckenvenenthrombose klinisch nur selten diagnostiziert, und es gab keine Empfehlungen zu einer speziellen Behandlung. Der englische Arzt David D. Davis (1777-1841) hat 1822 bei vier Sektionen den Zusammenhang zwischen der Phlegmasia alba und einer violenten, destruierenden Entzündung der Beckenvenen und der unteren Hohlvene erkannt. Es handelte sich um Schwangere und um Verstorbene in schlechtem Allgemeinzustand infolge hämorrhagischer Blutungen oder protrahierter Fieber.

Aus dem Blutstau leitete Davis seine therapeutischen Konsequenzen ab, that the speedy resolution of the inflammation in the iliac veins, is to be secured in almost every case by early and decisive local treatment. The blood to be abstracted should, accordingly, be all taken from the immediate neighbourhood of the part primarily affected. Leeches (Blutegel) are the only operators to be depended upon in these cases. Of these a dozen or a dozen and a half should be forthwith applied to the groin, to the affected iliac region, and to the interior and superior part of the thigh. Einen ähnlichen guten Effekt hat ein blasenziehendes Pflaster in der Leiste. An weiteren Maßnahmen wurden kalte Anwendungen und Umschläge mit verdunstenden Lotiones empfohlen sowie alle zwei, höchstens aber drei Stunden die Einnahme von Digitalis in hohen Dosen. In einem Nebensatz kamen heiße Umschläge und eine milde Kompression als alternative Verfahren zur Sprache (5).

Das Ansetzen von Blutegeln war bis zur Einführung der Antikoagulantien vor 50 Jahren überall in Europa üblich. Die Tiere wurden hauptsächlich in Griechenland gefangen und über die Apotheken verkauft. Noch um 1950 hatten viele Krankenstationen in ihrem Badezimmer ein Glas mit den Blutegeln zu stehen, die bei verschiedenen Patienten immer wieder verwendet wurden. Eine allgemeine Anerkennung als lokales Antiphlogistikum fand auch die Graue Salbe.

Die Therapie mit Kompressionsverbänden bezog sich in der antiken und mittelalterlichen Medizingeschichte auf die Varikose und das Ulcus cruris. Als Methode zur Behandlung und Prophylaxe der Phlebothrombose wurde sie 1910 von Heinrich Fischer systematisch angewendet. Es dauerte aber noch 20 Jahre, bis sich die Kompressionstherapie allgemein durchsetzen konnte.

Fischer hatte sich als praktischer Arzt 1886 in Eltville am Rhein niedergelassen und zog dann 1894 nach Wiesbaden. Besonders waren es die jungen Wöchnerinnen, die plötzlich an der Lungenembolie verstarben. Seine Arbeit über „Eine neue Therapie der Phlebitis“ hat er 1910 in der Medizinischen Klinik veröffentlicht (7).

Die modernen Wege der konservativen Thrombose-Therapie führten dann zur Antikoagulation. John McLean entdeckte 1916 das Heparin. Die ersten klinischen Anwendungen erfolgten 1936. Der entscheidende Schritt in das heutige Behandlungskonzept ging von den niedermolekularen Heparinen aus. Meines Erachtens hat sich der Internist Werner Blättler in Zürich 1991 als erster mit der ambulanten Versorgung der Thrombose-Patienten befaßt (3), lange schon vor der richtungsweisenden kanadischen und der holländischen Studie (17, 22).

Die Fibrinolyse der Thromben durch Streptokinase hat unsere Kongresse über Jahrzehnte beherrscht. Besonders die Schweizer Arbeitsgruppe um Widmer hat sich in den sechziger Jahren darum verdient gemacht (23).

Die Geschichte der chirurgischen Thrombose-Therapie
Das klinische Bild der schweren Bein- und Beckenvenenthrombose war noch bis zur Mitte des vergangenen Jahrhunderts wenig bekannt und gab den Anlaß zu ärztlichen Fehlentscheidungen. So erfand der deutsche Chirurg Haim im Jahre 1931 zufällig ein neues Operationsverfahren. Er beschrieb die folgende Krankengeschichte (14).

Am 18. Februar 1927 wurde im allgemeinen öffentlichen Krankenhaus in Böhmisch Budweis ein 37jähriger Mann mit Endomyocarditis aus der inneren in die chirurgische Abteilung verlegt. Er sah sehr verfallen aus, hatte 38,8° Fieber und eine starke unförmige Schwellung des rechten Beins mit heftigen Schmerzen. Unter der Verdachtsdiagnose einer Phlegmone wurde in Äther-Narkose eine ausgiebige Inzision am Oberschenkel nach allen Richtungen und schließlich bis auf den Knochen durchgeführt, es fand sich aber kein Eiter. Haim berichtete weiter: Unbefriedigt ob des meiner Meinung nach überflüssigen operativen Eingriffes verließ ich den Kranken. Mit schlechtem Gewissen trat ich am nächsten Tag an sein Bett und war nicht wenig erstaunt, als er mich mit bewegten Worten des Dankes empfing. Die Extremität war abgeschwollen, der Verband voll von blutig-seröser Flüssigkeit; das Fieber und vor allem die rasenden Schmerzen waren verschwunden. Am 20. Februar 1927 traten dann ein heftiges Beklemmungsgefühl in der Brust, Atemnot und perikarditisches Reiben auf. Der Allgemeinzustand verschlechterte sich. Am 2. März 1927 wurde der Patient auf eigenen Wunsch entlassen; er verstarb wenige Tage später an der schweren Krankheit. Haim hat seine Operation mit tiefen Inzisionen und Drainagen noch an fünf anderen Patienten mit tiefer Venenthrombose durchgeführt. Die Methode konnte sich aber nicht durchsetzen.

Die Chirurgie der venösen Thrombose begann auf der 61. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie 1938 im Berliner Langenbeck-Virchow-Haus in der Luisenstraße. Am 21. April hielt Artur Läwen das Hauptreferat zum Thema Weitere Erfahrung über die operative Thrombenentfernung bei der Venenthrombose. Er stellte fünf Patienten vor (19, 20).

Läwen war Ordinarius für Chirurgie an der Universität in Königsberg. Er legte die V. iliaca externa frei, drückte sie mit einem Tupfer ab und entfernte die Thromben von der V. femoralis aus. Er konstruierte dafür ein stumpfes harkenförmiges Instrument, den Thrombuskratzer. Alle Operationen verliefen zunächst glücklich, darunter auch ein Fall von Thrombose der V. subclavia. Zwei Patienten verstarben später. Läwen sagte: Es kann noch keine Rede davon sein, die blande Venenthrombose allgemein operativ zu behandeln.

In der Diskussion des Kongresses berichteten aber schon mehrere Chirurgen über ihre Erfolge mit der Thrombektomie. Kulenkampff war 1938 Chefchirurg im Heinrich-Braun-Krankenhaus Zwickau/Saale. Er lehnte den großen Eingriff nach der Vorgabe Läwen´s bei den schwerkranken Patienten ab. Als Alternative empfahl er, die Thrombektomie von der V. saphena magna aus vorzunehmen.
Wand-adhärente Gerinnsel wurden mit einer Kornzange entfernt und lockere Thromben vom Patienten herauspresst.
Thrombektomie der Beckenvenen nach Kulenkampff von der V. saphena magna aus (18)

Kulenkampff veröffentlichte dazu die nachstehende Krankengeschichte (18): Eine Patientin war wegen einer schleichenden Thrombophlebitis in der Mitte des linken Oberschenkels schon längere Zeit behandelt worden und bekam eines Tages eine leichte Embolie. Als ich die Patientin 2 Tage später sah, war auch in der Leistenbeuge kein sicherer Befund zu erheben. Ich legte sofort die Vena saphena am Lig. Pouparti in örtlicher Betäubung frei. Die Vena saphena enthielt einen Thrombus. Sie wurde durchtrennt, der Thrombus nach Schlitzung der Saphena vorsichtig mobilisiert und herausgezogen. An dem derben Anteil des Saphena-Thrombus hing, weit in die Iliaka hineinreichend, ein 7cm langes weiches Blutgerinnsel. Keine Wiederholung der Embolie und Heilung. Erlebt man so etwas, so kommt man sich vor wie der Reiter auf dem Bodensee: Wie oft mögen wir harmlos an einem Patienten gestanden und vorbei gegangen sein. Kulenkampff hat auf diese Weise insgesamt 61 Fälle operiert und darunter auch 5 mit genuiner tiefer Venenthrombose.
 

Erst nach dem Zweiten Weltkrieg konnte der französische Chirurg René Fontaine die Thrombektomie zu einem standardisierten Eingriff entwickeln (8). Mit der Erfindung des Fogarty-Katheters, mit Einführung der Antikoagulation und vor allem der atraumatischen Operationstechnik ist die Entwicklung einer Chirurgie der Bein- und Beckenvenenthrombose zunächst abgeschlossen. Zu allen Zeiten mußte sich die operative Therapie aber sehr kritisch mit den konservativen Behandlungsarten auseinandersetzen.

Die Geschichte der Thrombose-Prophylaxe
Die Einführung der Anästhesie und der Antisepsis in der Mitte des 19. Jahrhunderts hat einen gewaltigen Aufschwung der Chirurgie ermöglicht. Jetzt wurden die Thrombose und die Lungenembolie immer häufiger zu einer unheimlichen, tödlichen Gefahr. Der schwedische Chirurg Lennander führte 1899 an seiner Klinik die erste konsequente Thrombose-Prophylaxe ein und hatte überzeugende Erfolge. Er teilte dazu die nachfolgende eindrucksvolle Kasuistik mit (21).

Eine ältere Frau war wegen einer oberflächlichen Eiterung vor einem Kniegelenk operirt worden. Nach einigen Tagen sollte sie mit einem Verband nach Hause entlassen werden. Sie bekam die Erlaubnis, aus dem Bett aufzustehen, um sich an einer an der anderen Seite des Saales befindlichen Waschstelle zu waschen. Das war das erste Mal, dass sie nach der Operation auf ihren Beinen stand. Sie hatte indessen kaum die Hälfte des Weges zurückgelegt, als sie umfiel; nach einigen Minuten war sie todt. Wie man erwartete, zeigte die Sektion frische Thromben in den erweiterten Venen unterhalb des Kniegelenks und einen Embolus in der A. pulmonalis..

Tabelle 4. Postoperative Thrombose-Prophylaxe nach G. Lennander 1899 (21)  
leichter Kompressionsverband mit Flanellbinde  
Hochlagerung des Beins in steifer Ebene  
Erhöhung des Fußendes des Betts  
häufige Lageveränderungen des Körpers  
passive Bewegungen und Frottierungen der Beine  
aktive Bewegungen der Beine  
Kissen unter die Schulter legen  
geringe Mengen von Speise und Trank  
post operationem 

Lennander´s Thrombose-Prophylaxe hört sich sehr modern an. Bei jedem Patienten wurden die Beine gleich nach dem Eingriff mit einer Flanell-Binde bandagiert, die passive und aktive Bewegungstherapie im Bett begonnen und die Frühmobilisation eingesetzt. Eine adäquate Ernährung sollte den Meteorismus vermeiden. Aber auch schon während der Operation setzte die Prophylaxe ein (Tab. 5).

Tabelle 5. Intraoperative Prophylaxe nach G. Lennander 1899 (21)  
Hochlagerung der Beine auf Beinschienen  
Erhöhung der Fußendes des Operationstisches  
intravenöse Infusion von Kochsalzlösung  
Kochsalzspüllösung im Bauchraum belassen 

Wenn möglich, erfolgte die Laparotomie in Beckenhochlagerung, damit das Blut aus den Beinen leichter in den Kreislauf zurückfließt. Lennander ließ die Kochsalzlösung zur Spülung der Bauchhöhle teilweise zurück; die Flüssigkeit sammelte sich unter dem Zwerchfell an, und von hier war es dann nur noch ein kurzer Weg bis zum Herzen, um die Zirkulation anzuregen.
Une Laparatomie (á l´hôpital Broca) 29 juin 1901. Hochlagerung der Beine, um das Blut besser in die Zirkulation abzuleiten. Hochlagerung des Beckens und Belassung von Spülflüssigkeit im Bauchraum, die sich unter dem Zwerchfell ansammelt und von hier schneller den Weg zum Herzen findet.

Unserer Zeit war es nur noch vorbehalten, dem Lennander´schen Konzept der Thromboembolie-Prophylaxe die niedrigdosierte Heparin-Medikation hinzuzufügen. Damit befaßten sich anfangs der siebziger Jahre zahlreiche Arbeitsgruppen auf der ganzen Welt, für die stellvertretend Kakkar 1972 in London zitiert sei (16). Diese Forschungen dauern an.

Schlußwort
Die Geschichte der venösen Thrombose wurde in Forschungslabors, in medizinischen Kliniken und in Operationssälen geschrieben. Leider müssen aber auch ungezählte leidvolle Erfahrungen erwähnen werden, die auf dem Sektionstisch endeten. Früher, heute und in der Zukunft.


Literaturverzeichnis
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3. Blättler W (1991) Ambulatory care for ambulant patients with deep venous thrombosis. J Malad Vasc (Paris) 16:137-41

4. Cruveilhier J C. Zit n Virchow R (43,44)

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6. Eberth JC, Schimmelbusch C. Experimentelle Untersuchungen über Thrombose. Fortschr Med 1885; 3: 379-89

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18. Kulenkampff D (1938) Die Verhütung schwerer und tödlicher Embolien durch Ausräumung der Vena iliaca. Arch Klin Chir 193:727-36

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28. Puchelt DFAB. Das Venensystem in seinen krankhaften Verhältnissen. Leipzig: Brockhaus 1818; 9-10, 25

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36. Virchow R. Die Cellularpathologie. Zehnte Vorlesung vom 17. März. Berlin: Hirschwald 1858; 176-87

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38. Wight Ch 1784. Zit. nach Davis (6)

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